Text: Carlotta Böttcher
Chişinău. Die Republik Moldau war noch nie ein Land lebendiger Protestkultur und sieht sich als Nachbarland der Ukraine zudem direkt bedroht von einem russischen Angriffskrieg. Ein Grund also, ruhig zu sein, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Sicher nicht, finden die Aktivistinnen und Aktivisten, die sich seit 3 Monaten täglich vor der russischen Botschaft versammeln, um gegen den Krieg im Nachbarland zu protestieren.

Die Nachmittagssonne brennt auf den Asphalt, eine laute Sirene heult auf. Yuliya bekommt eine Gänsehaut – obwohl sie gar nicht mehr in Kiew ist, sondern in der moldauischen Hauptstadt Chişinău, in Sicherheit. Die Erinnerungen an die Ukraine sind jedoch allgegenwärtig. Erst fünf Wochen nach Kriegsbeginn hat sich die gebürtige Kiewerin entschieden, mit ihrer 12-jährigen Tochter das Land zu verlassen. Eine Rakete hatte das Nachbarhaus getroffen, der Krieg war zu nah gekommen.

Nun ist Yuliya in Moldau, dem kleinen Nachbarland im Westen der Ukraine. Bei einem Blick auf die Karte sieht es fast so aus, als würde es von der Ukraine verschlungen werden. Die 30-Jährige erzählt, dass sie zwar wusste, dass dieses Land existiert, aber sie hätte nie gedacht, einmal hierher zu kommen. Vor drei Monaten träumte sie noch von Reisen nach Paris oder London, was mit ihrer neuen, gut bezahlten Anstellung in einem Schmuckgeschäft Ende letzten Jahres auf einmal auch realistisch war. Und nun lebt sie sogar in der kleinen Hauptstadt Chişinău, die so viel weniger weltstädtisch ist als ihre Heimatstadt Kiew. Von ihrer neuen Wohnung aus blickt sie geradewegs auf die russische Botschaft – und wurde so auf die täglichen Proteste aufmerksam. Anfangs war es der einzige Ort in der neuen Stadt, den sie regelmäßig besuchte.

Das Botschaftsgebäude macht einen imposanten Eindruck, direkt an der vierspurigen Hauptstraße, bewacht von mindestens zwei Polizist:innen, oft auch mehr. Die Straße ist benannt nach Stefan dem Großen, ein sowohl in Moldau als auch in Rumänien verehrter Nationalheld. Die Lage der russischen Botschaft ist ein Sinnbild für Moldaus bewegte Geschichte, stets eingeklemmt zwischen mächtigen Nachbarn. Im 19. Jahrhundert gehörte der östliche Teil des heutigen Territoriums zu Russland, der Westen zu Rumänien. Anfang des nächsten Jahrhunderts schloss sich Moldau Rumänien an aus Angst vor den Bolschewiken, anschließend war das gesamte Gebiet eine Teilrepublik der Sowjetunion.
Auch in der deutschsprachigen Bezeichnung des Landes spiegelt sich die Geschichte wieder: Republik Moldau ist die offizielle, aus dem rumänischen übersetzte Bezeichnung. Der umgangssprachliche Name „Moldawien“ stammt von der abgekürzten russischen Übersetzung der ehemaligen „Moldauischen Sozialistischen Sowjetrepublik“. Erst seit 1991 existiert die unabhängige Republik, jedoch mit der Separatistenregion Transnistrien im Osten des Landes, welche von Russland unterstützt wird. Damals wie heute ist die moldauische Bevölkerung gespalten – in einen eher westlich orientierten, rumänisch sprachigen Teil sowie in einen nach Russland orientierten, russischsprachigen Teil.
Die Spaltung geht auch durch viele moldauische Familien, erklärt Vadim. Der 29-Jährige steht fast täglich vor der russischen Botschaft. Er hält ein Schild, welches die Gesichter Hitlers und Putins zu einem Gesicht vereint zeigt. Daneben steht in kyrillischen Buchstaben: „Der Faschismus wird nicht vergehen“ – eine Phrase, die auch Putin als Rechtfertigung für seinen Krieg in der Ukraine anbringt. Vadim erzählt, dass er sich als Teenager niemals vorgestellt hätte, einmal mit blau-gelber Fahne gegen Putin zu demonstrieren. Seine Mutter ist Russin, er ist – wie viele der Aktivist:innen – mit russischem Fernsehen aufgewachsen. Für ihn war das russische Staatsoberhaupt ein Vorbild in
Kindheitsjahren, er war beeindruckt von seiner Stärke, „ein cooler Typ eben“. Im Teenageralter schloss sich Vadim dann den „Unionisten“ an, einer Bewegung, die die politische Vereinigung Moldaus mit Rumänien anstrebt. Vadims Vater ist Rumäne, weswegen Vadim auch die rumänische Staatbürgerschaft – und damit Reisefreiheit in ganz Europa – erhielt. Diesen Sommer wird er nach Estland gehen, „endlich an einer coolen Uni studieren“, erzählt er.

Während viele Moldauer:innen wegen mangelnder Zukunftsperspektiven das arme Land verlassen (knapp ein Drittel aller Staatsbürger:innen lebt bereits im Ausland), sind viele Ukrainer:innen seit Kriegsbeginn in das kleine Land gekommen, um Zuflucht zu suchen. Die Geflüchteten, die in Moldau bleiben, hoffen auf ein baldiges Ende des Krieges und eine Rückkehr nach Hause, sie wollen nicht weiter in den reicheren Westen Europas.
Offiziell ist Moldaus Rolle neutral: Die hundert-prozentige Abhängigkeit von russischem Gas sowie die Stationierung von russischen Soldaten in der Separatistenregion Transnistrien machen eine klare Positionierung für die Ukraine unmöglich. Die EU-Mitgliedschaft wurde Anfang März beantragt. Und dennoch ist die Unterstützung für die Geflüchteten in der Zivilbevölkerung riesig. Der Werbeslogan für Moldau wurde kurzerhand umgeändert von „Discover the routes of life“ zu dem treffenden „A small country with a big heart“.
Und auch die Protestierenden vor der russischen Botschaft setzen täglich ein deutlich sicht- und hörbares Zeichen der Solidarität mit der Ukraine. So wie Yuliya und Vadim stießen viele Menschen zu den Protesten, sowohl Ukrainer:innen, als auch Moldauer:innen. Eher zufällig, beim Vorbeifahren im Bus oder aus dem Auto heraus, haben sie die ukrainischen Fahnen gesehen und die Protestschilder gelesen. Inzwischen sind über 500 Menschen in der Telegram Gruppe, über welche die Demonstration organisiert wird. Jeden Tag versammeln sie sich über mehrere Stunden vor der
Botschaft. Und auch wenn nur zwei oder drei Menschen Zeit finden, wird der Protest lautstark von hupenden, vorbeifahrenden Autos unterstützt.
Das sei nicht selbstverständlich für die Moldauer:innen, erzählt Elena. Die Umweltaktivistin mit den violett gefärbten Haaren fällt auf in der Stadt. „Viele Menschen hier sind es nicht gewohnt, ihre politische Meinung laut zu äußern, protestieren zu gehen“, erzählt sie weiter. Viele Leute hätten noch die sowjetische Mentalität verinnerlicht. Außerdem war es in der Vergangenheit gängige Praxis in Moldau, dass politische Parteien Menschen Geld bezahlten, damit sie für ihre Interessen demonstrieren. Elena kennt zahlreiche Geschichten von Freund:innen, denen Geld in der Universität
oder im Sportverein fürs Demonstrieren angeboten wurde. Sie sagt: „Wir müssen das demokratische Instrument des Straßenprotests wieder für uns zurückgewinnen.“ Auch wenn nicht alle damit einverstanden sind. Einige Passant:innen hätten mit den Protestierenden vor der Botschaft geschimpft, sie sollen lieber leise sein, sonst greife Putin auch noch Moldau an, erzählt Elena weiter. Natürlich habe auch sie ein mulmiges Gefühl. „Wenn die Russen kommen, dann
haben sie Moldau in fünf Minuten eingenommen“, sagt sie. „Aber was sonst bleibt uns übrig?
Wegducken, leise sein? Sicher nicht!“

Und tatsächlich, die Proteste werden durch die geschlossenen Fenster der Botschaft auch in Moskau gehört. Ende Mai gab es erneut eine Beschwerde russischer Diplomat:innen, dass sie bei dem Lärm und dem ständigen Hupen nicht arbeiten können. Der moldauische Parlamentssprecher verwies seine Kolleg:innen darauf, dass – auch wenn es in anderen Ländern vielleicht nicht üblich sei – in Moldau das Recht auf freie Meinungsäußerung herrscht, vor dem Parlament, vor Botschaften oder anderswo. Und die Demonstrierenden reagieren auf die Beschwerde, indem sie weiterhin lautstark die Sirenen und Tonaufnahmen von Bombeneinschlägen abspielen. Das sei zwar für sie und andere
Geflüchtete belastend, die russischen Diplomat:innen sollten jedoch merken, wie es ist, unter solchen Umständen zu „arbeiten“, meint Yuliya.

Und auch sie muss sich entscheiden, ob sie zurückkehrt, unter ständigem Luftalarm leben und arbeiten kann – oder ob sie sich ein neues Leben in Chişinău aufbaut. Inzwischen hat sie sich einigermaßen eingelebt, wenn auch nicht so gut, wie ihre Tochter. Sie sei ständig unterwegs, hat schon neue Freundinnen gefunden, erzählt Yuliya. Wenn sie nicht zurückgeht, verliert sie ihren Job.
Ihre Chefin muss diese Entscheidung nicht treffen, sie ist mit ihrer Familie in Deutschland und kann von dort aus die Geschäfte leiten. Yuliya ist schon zu einem Entschluss gekommen: ein sicheres Leben für ihre Tochter und sie gibt es derzeit nicht in der Ukraine.
