Text: Carlotta Böttcher

Die Republik Moldau hat seit Kriegsbeginn in der Ukraine die meisten Geflüchteten pro Einwohner aufgenommen, obwohl sie als eines der ärmsten Länder der Region gilt. Ein Beispiel für die große moldauische Hilfsbereitschaft ist Natalia, die seit nun fast zwei Monaten mit vier geflüchteten Ukrainerinnen zusammenlebt.

Im Nordwesten der moldauischen Hauptstadt Chişinău, in einem typischen Arbeiterwohnviertel, färben nur ein paar violette Fliederblüten den sonst trist anmutenden Plattenbau frühlingshaft ein. Buntes Treiben herrscht jedoch in einer Dreizimmerwohnung im dritten Stock. Mit dem Öffnen der Tür strömt Duft nach frischem Gebäck heraus. Wir werden in das Wohnzimmer geführt, sollen gleich an dem Tisch Platz nehmen. Die Wohnung sei zwar klein, aber nie zu klein für Gäste, scherzt Natalia.

Sie wohnt hier mit ihrer Tochter Alla und ihrem Sohn Iura, und seit fast zwei Monaten leben zusätzlich vier ukrainische Frauen bei ihnen. Die kleine Republik Moldau grenzt im Norden, Osten und Süden an die Ukraine, viele Moldauer fürchten ebenfalls einen möglichen Angriff Russlands.

Während Oacsana und Galina, die beiden ukrainischen Frauen, in Gastgebermanier den frisch gebackenen Chatschapuri, ein georgisches Nationalgericht, aus dem Ofen holen, fängt Natalia an zu erzählen. Die Frau, die als Direktorin der Umweltorganisation Club Gutta arbeitet, ist eine lebhafte Person, gestikuliert viel beim Reden, unterstreicht damit das Gesagte. Sie strahlt Zuversicht und viel Optimismus aus.

Ihre Kindheit verbrachte sie wegen familiärer Bindungen jeden Sommer in der Ukraine, und auch heute hat sie über ihre Arbeit viele Kontakte ins Nachbarland. Als der Krieg begann, wurden sofort alle Netzwerke aus Bekannten und Freunden aktiviert. Bereits am ersten Abend des Krieges, an welchem Alla eigentlich ihren 17. Geburtstag feiern wollte, nahm die kleine Familie vier Flüchtende bei sich auf.

Scherzend berichtet Natalia, dass es keinerlei demokratische Abstimmung gab, für sie war klar, dass Alla und Iura ihre Jugendzimmer räumen müssen, damit Ukrainerinnen bei ihnen Platz finden würden. Natalia selbst schläft sowieso schon immer im Wohnzimmer. Die Couch, auf der auch ihre Gäste empfangen werden, nennt sie liebevoll ihre „king corner“, die Königsecke. Von dort aus überblickt sie jedes Geschehen in der Wohnung. Die Kinder sind übergangsweise zu ihrer Großmutter gezogen, leben wieder gemeinsam in einem Zimmer, wie früher, als sie noch klein waren. Wirklich störend finden sie das nicht, sie verstehen sich gut und freuen sich insgeheim sogar etwas über die neu gewonnene Freiheit.

Seit Anfang März lebt nun die 60-jährige Oacsana mit ihrer über 80-jährigen Mutter bei ihnen. Die beiden sind aus Kyiv geflohen und planen, zu ihrer Verwandtschaft nach Israel weiter zu reisen. Jedoch gibt es Komplikationen mit den Dokumenten, sie sitzen in Moldau fest. Einige Wochen später haben Galina und ihre auch über 80-jährige Mutter ebenfalls Zuflucht bei Natalia gefunden. Sie hoffen auf ein baldiges Ende des Krieges, wollen in Moldau bleiben, bis sie wieder zurück in ihre Heimat Odessa können. Die ukrainische Metropole am Schwarzen Meer ist nur wenige Autostunden von Chişinău entfernt.

Die sich bis vor Kurzem noch fremden Menschen haben schnell einen gemeinsamen Alltagsrhythmus gefunden. Natalia beschreibt ihr Zusammenleben liebevoll als „organisches Gebilde“: Alle fügen sich ein, passen sich an, nehmen Rücksicht. Wie die neu zusammengewürfelte Familie da so gemeinsam am Tisch sitzt und kleine Anekdoten aus ihrem alltäglichen Zusammenleben erzählt, stellt sie amüsiert fest, dass sie wie in den Kommunalkas lebt, den typischen Gemeinschaftswohnungen in der Sowjetunion, in denen sich mehrere Parteien eine Wohnung teilten. Nicht nur eine gemeinsame Sprache, das Russische, teilen die Ukrainerinnen mit den Moldauerinnen, eine ganze gemeinsame Vergangenheit verbindet sie. Die ältere Generation hat schon einmal in Kommunalkas gelebt, die Jüngeren können es sich nicht so Recht vorstellen. Zu uns meint Natalia: „Ihr würdet doch am liebsten auch hier wohnen!“ Tatsächlich ist es eine dieser Familien – obwohl sie gar keine „echte“ Familie ist – bei denen man sich sofort willkommen, ja fast schon zu Hause fühlt.

Natalia und „ihre“ Geflüchteten, wie sie die vier ukrainischen Frauen liebevoll nennt, haben gemeinsame Geburtstage gefeiert, aber auch schwierige Momente durchlebt. Vor wenigen Tagen ist Natalias Mutter verstorben. Auch dieser Schicksalsschlag bringt sie nicht davon ab, die Ukrainerinnen weiterhin zu unterstützen. „Meine Geflüchteten bleiben hier bei mir“, sagt sie, „Ich bin Humanistin. Von den Fingerspitzen bis in die Zehen.“ Mit einer solchen Selbstverständlichkeit zu helfen, ist bewundernswert. Schließlich geht es nicht nur um mentale Stärke, auch finanziell belastet die Situation die Familienkasse. Unterstützung von Seiten der moldauischen Regierung gab es nur einmalig in Höhe von umgerechnet circa 100 Euro. Das Geld deckt die gestiegenen Wasser- und Energiekosten nicht, Natalia trägt dennoch weiterhin alle Kosten allein.

Oacsana schlägt nun vor, die Babuschkas, russisch für Großmutter, aus ihren Zimmern zu holen. Die Stars sollen auftreten, wird schmunzelnd kommentiert. Lina und Galina gesellen sich schüchtern zu uns, sie sehen erschöpft und müde aus. Um in so hohem Alter aus der Heimat zu fliehen, muss man stark sein. Oacsana und ihre Mutter Galina wollten in Kyiv bleiben, jedoch war es zu anstrengend, bei jedem Luftalarm den Keller aufzusuchen, die Panikattacken nahmen zu. Seit ihrer Ankunft in Moldau haben die alten Damen erst zwei Mal die Wohnung verlassen, auch die Treppen in den dritten Stock ohne Aufzug sind kaum zu bewältigen. Die meiste Zeit des Tages verbringen sie in Allas und Iuras Zimmer. Die Einöde ist bedrückend, sie lässt Raum für schlechte Erinnerungen, öffnet auch  Raum für Zukunftsängste. Ohne Zugang zu Internet und Social Media können sie sich noch viel weniger ablenken als die jüngeren Generationen. Auch Privatsphäre zu finden in der kleinen Wohnung ist nicht leicht. Galina schließt sich zeitweise auf der Toilette ein zum Telefonieren, ihre Mutter löst dort bevorzugt ihre Kreuzworträtsel. Oacsana als einzige Raucherin ist froh über ihren Platz auf dem Balkon und ihre Mutter hört stundenlang Hörbücher in Iuras Zimmer, welches jetzt auch ihres ist.

Einen Fernseher gibt es in Natalias Haus nicht. Das sei eines ihrer Grundprinzipien, erklärt sie stolz. Es werde so viel Propaganda vermittelt, davor müsse man sich schützen. Der Krieg in der Ukraine ist vor allem auch ein Krieg der falschen Informationen, ein Krieg der Medien. Wenn sie wissen will, was gerade in Charkiw passiert, kontaktiert sie ihre Bekannten vor Ort, bekommt so einen Eindruck aus erster Hand, eine verifizierbare Information. Wieder spielt die gute Vernetzung eine wichtige Rolle.

Die nächsten zwei Wochen muss Natalia außerhalb der Stadt arbeiten. Iura und Alla werden währenddessen die Ukrainerinnen unterstützen. Falls der Krieg nach Moldau kommt, ist für die Flucht alles vorbereitet: Iura hat eine Vollmacht seiner Mutter bekommen, damit seine minderjährige Schwester auch mit ihm ausreisen darf. Freunde in Rumänien sind informiert, dass sie jederzeit Zuflucht suchen könnten. Und ein Bekannter aus Chişinău wird sie in seinem Auto mit über die Grenze nehmen, wenn es nötig wird. Wie man solche Vorbereitungen trifft, hat Natalia sich von ihren Freunden aus Kyiv berichten lassen. Sogar als sie darüber spricht, verschwinden die Lachfalten um ihre Augen nicht. „Ich bin optimistisch. Das müssen wir auch sein, nur so können wir überleben“, sagt sie. Iura hat diesen Sommer Abiturprüfungen und will dann studieren, Alla steht ihr erstes Praktikum im Krankenhaus bevor. „Das Leben der Kinder geht jetzt erst richtig los. Wir brauchen hier keinen Krieg, wir müssen Prüfungen bestehen“, meint Natalia. „Wir wollen nicht weg aus Moldau.“